2. Geldnot
Ciudad Guatemala, Guatemala, 20. Juni 2012
Ich hatte ein Problem! Nicht nur, dass mir der Magen vor Hunger schmerzte, mir ging auch langsam das Geld aus. Ich hatte sehr viel gespart, und schließlich hatte mich diese Reise um mein gesamtes Geld gebracht. Ich stand auf dem Rollfeld des Flughafens von Guatemala und überlegte. Genau hatte ich nur noch knapp vier Dollar und achtzehn Euro. Aber was war der Grund für meine Geldnot? Es lag nicht an den Ausgaben. Es lag nämlich an meiner Schusseligkeit. Auf einer öffentlichen Toilette hatte ich mein Portmonee mit dem meisten Geld liegen gelassen. Ich hatte noch ein zweites, für Notfälle. Leider reichte das Geld in der zweiten Brieftasche, wo übrigens auch mein Ausweis, mein Führerschein, mein Flugschein und ein kleines Bild meiner Stiefmutter waren, nicht einmal für einen vollen Tank. Und dieser war jetzt leer. Mir fiel einfach nichts mehr ein. Ich musste aufgeben. Die einzige Lösung war, so viel Zeug zu verkaufen wie möglich. Meine Kleider? So weit sollte es nicht kommen! Meine Gitarre? Auf keinen Fall! Mein ... Flugzeug? Es war der teuerste Gegenstand, den ich besaß. Ich würde viel Geld machen und könnte mit der Bahn, mit einem Auto oder mit einer Verkehrsmaschine weiterreisen.
Und so kam es auch. Ich hatte in einem Internetcafé nach Leuten gesucht, die gerne Ultraleichtflugzeuge kaufen würden. Ich traf meinen Käufer schneller als gedacht. Er wohnte nicht weit vom Flughafen entfernt, und ich vereinbarte ein Treffen auf dem Rollfeld. Als ich wieder zum Flughafen zurückkehrte, wartete meine Golgrube schon bei meiner Maschine. "Habe ich Sie lange warten lassen, Señor?", fragte ich und reichte ihm die Hand. "Nein, nein. Das ist eine wirklich sehr schöne Maschine. Comco Ikarus C42, wenn ich mich nicht irre. Baujahr 2002, hergestellt in Deutschland", sagte der Mann und streichelte mein Flugzeug, als wäre es ein Welpe. "Sie kennen sich sehr gut aus. Was glauben Sie, wieviel Sie dafür bezahlen würden?" "Kommt darauf an, was alles enthalten ist", sagte der Käufer und runzelte die Stirn, als würde er denken, dass in der Maschine ein heißes Playmate auf ihn wartete. "GPS, Kniebrett mit Checkliste, ein Haufen Kugelschreiber, ein Kästchenblock und ... ein funktionierendes Funkgerät". "Ich würde sagen, nicht mehr als 2.000 Dollar!" Ich war entsetzt! Dieser Preis war wohl recht unterirdisch. Ich schüttelte wild den Kopf. "Nein! Ich würde sagen, Sie geben mir 8.000. Dann können Sie sie haben". "Tut mir leid! Aber ich bleibe bei 2.000 Dollar!" "Gut, sagen wir 7.500!" "2.000!" "7.000!" "2.000!" "6.000?" "2.000!" "5.000?" "2.000!" "4.500?" "2.000!!!" "Wie wäre es mit 4.300 Dollar?" "Wie wäre es mit 1.500 Dollar?" Ich überlegte kurz und sagte dann: "Also gut! 2.000 Dollar! Sind Sie jetzt zufrieden?!" "Nein, 1.400!" "Mir scheint so, als wollten Sie die Maschine gar nicht haben!" "Und ich glaube, Sie wollen sie gar nicht erst verkaufen! Sagen wir 1.800 Dollar. In Ordnung?" "Abgemacht, 1.800 Dollar", sagte ich und schloss den Vertrag mit einem Händeschütteln ab, bevor der Kerl meine Maschine noch weiter entwertete. In diesem Moment merkte man, wie schlecht ich feilschen konnte. Das hatte man ebenfalls gemerkt, als ich versucht hatte, eine Flugkarte für den Luftverkehr des türkischen und arabischen Luftraums auf einem Basar in Manavgat in der Türkei zu ergattern. Wir hatten mit vier türkischen Lira angefangen und endeten bei 3.465. Das war ebenfalls einer dieser Momente, wo ich beinahe mein gesamtes Geld verloren hätte, wenn dieser Verkäufer mich noch weiter so getriezt hätte. Aber 1.800 Dollar waren okay - wohl oder übel. Gott sei Dank hatte ich meine gesamten Karten vorher aus der Maschine entfernt, besonders die für Süd- und Mittelamerika.
Da stand ich also. Alleine und um 1.800 Dollar reicher. Ich beschloss mich zum Busbahnhof von Guatemala zu begeben, um einen Bus in Richtung Gualán zu nehmen, welches etwa 170 Kilometer von Guatemala entfernt war. Einer der Mitfahrer, der neben mir saß und sich als recht unterhaltsam herausstellte, teilte seine Box mit Keksen mit den anderen Fahrgästen. Da der Bus recht klein war, war das keine Schwierigkeit. "¡Gracias!", sagte ich und nahm einen entgegen. "Hah, wissen Sie, es ist schon irgendwie komisch. Ich bin jetzt seit Wochen unterwegs und habe immer noch kein Heimweh!", sagte der Mann und lachte kurz auf. "Ach wirklich? Wo kommen Sie denn her?" "Aus Ciudad de México. Ich mache so eine Art Pilgerreise nach Naranjito, Honduras. Eigentlich wollte ich den Camino Francés laufen, aber leider reicht mein Geld nicht für eine Reise nach Spanien." "Was bewegt Sie denn, nach Naranjito zu laufen? Ich meine, wenn man von deren Existenz nicht weiß, verfehlt man es auf jeder Landkarte." Diese Stadt war zwar nicht klein, aber auch nicht sonderlich groß." "Ich will ein paar Freunde besuchen ... und meinen Onkel. Er ist Priester in der Kirche von Naranjito. Ich würde ihn sehr gerne besuchen. Er hatte die Idee mit dem Pilgern. Und was ist mit Ihnen? Wo wollen Sie hin?", fragte er und drückte mir noch einen Keks in die Hand. "Ich weiß es nicht. Ich versuche so weit zu kommen wie möglich. Vielleicht Rio de Janeiro, oder Feuerland". Der Fremde, dessen Namen ich noch nicht erfahren hatte, schaute mir verwirrt ins Gesicht. "Wenn Sie mit dem Bus reisen wollen, könnte das noch Monate dauern, bis Sie angekommen sind. Sie müssen sich da ja einen ziemlich langen Urlaub bei Ihrem Boss angesammelt haben." Der Bus holperte über ein tiefes Schlagloch, und die Kekse flogen aus der Schachtel, landeten aber wieder darin, als es zu regnen begann. "Oh, das ist nicht ganz korrekt. Genau genommen arbeite ich nicht. Ich arbeite nur mit dem Instrument im Kofferraum". "Sie meinen Ihre Gitarre? Ich habe gedacht, dass Sie sie nur zur Entspannung dabei haben, oder so. Ich weiß es nicht, denn ich kenne mich in der Musik gar nicht aus", sagte der Mann und drückte mir einen weiteren Keks in die Hand. "Ich heiße übrigens Jorge Martínez". "Andrés Megías", antwortete ich und reichte ihm die Hand, in der noch ein Keks ruhte. Schnell stopfte ich den Keks in den Mund und gab ihm erneut die Hand. "Wo kommen Sie eigentlich her?" "Aus ... Deutschland, Köln". "Oh ja, Sie haben wirklich lange Urlaub. Wie lange sind Sie jetzt unterwegs?" "Mehr oder minder ... neun Jahre". Jorges Kiefer sackte nach unten wie ein Sack Mehl. "Sie haben ... diese Reise auf sich genommen? Ich kenne Sie! Sie sind der Kerl aus der Zeitung!" "Aus der Zeitung?!" Jorge öffnete seinen Rucksack und holte ein zerknittertes Zeitungspapier heraus. Gleich auf dem Titelblatt war eine Anzeige mit einer Gitarre und einer Reisetasche abgebildet. Zudem war noch ein kleiner Text gedruckt:
Ein unglaublicher Junge - Der fünfzehnjährige A. Megías aus Köln, Deutschland, verschwand kurz nach einem heftigen Streit mit seinem Onkel und seiner Tante. Alleine macht er sich auf, um nach seiner Stiefmutter L. Álvarez zu suchen, die von der Polizei wegen Drogenschmuggels verhaftet wurde ...
"Was?! Das kann doch nicht sein! Meine Stiefmutter hatte keine Drogen geschmuggelt! Sie hatte nur nicht das Sorgerecht über mich! Das ist doch völliger Blödsinn!", flüsterte ich meinem neuen Freund zu.
... Nur mit einer Gitarre, einem Rucksack, zehntausend Euro und einer kleinen Reisetasche ist er aufgebrochen, um sie wiederzufinden. Bis heute weiß man nicht, was aus dem mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alten Mann geworden ist. Wer diesen Mann zufälligerweise trifft, ruft bitte bei seinem Onkel unter 0221-45231 an.
"Die Zeitung ist vom letzten Jahr! Wieso haben Sie sie mitgeschleppt?", fragte ich verwirrt und gab sie ihm wieder zurück. "Ich fand die Geschichte unglaublich. Und es ist mir eine Ehre Sie kennenzulernen". "Ach Quatsch! Ich bin ein völlig normaler Mann, wie Sie auch, Señor!" "Sí, ein völlig normaler Mann mit einem eisernen Willen!" Ich fühlte mich recht unwohl, wenn er so tat, als wäre ich eine Berühmtheit. Aber so schnell er damit angefangen hatte, verflog der Gedanke auch wieder. "Was glauben Sie denn, wo sich Ihre Stiefmutter befindet?", fragte Jorge und schaute kurz aus dem Fenster. Wir fuhren an einem breiten Fluss vorbei. "Ich weiß es nicht. Ich habe den Plan, sie zu finden, seit Charleston in den USA aufgegeben. Jetzt werde ich mir wahrscheinlich in Südamerika ein geeignetes Plätzchen suchen, mich dort niederlassen und mich auf die Musik konzentrieren", sagte ich und schaute wieder aus dem Fenster. "Wenn es Ihnen recht ist, würde ich jetzt gerne etwas nachdenken. Wir können ja diese Nacht im selben Hotel absteigen und uns dann beim Abendessen weiter unterhalten, okay?" Jorge nickte und packte seine Kekse weg. Langsam fielen mir die Augen zu. Ich erinnerte mich an einen guten Freund, den ich in Los Angeles kennengelernt hatte. Sein Name war José López ...
Er half mir bei der Suche nach meinem verschwunden Portmonee, welches ich zu dem Zeitpunkt verloren hatte. Wir fanden es auf einem Schrottplatz wieder. Er machte mir das Angebot, bei sich zu übernachten, um nicht extra in einem Hotel abzusteigen. Seine Eltern waren wirklich sehr nett, und ich konnte mich erstmals echt super unterhalten, da sie aus Puerto Rico kamen. José und ich lernten uns durch einen sehr ungewöhnlichen Zufall kennen. Ich wollte auf einer Bank mein Geld abheben - das war ein paar Monate, bevor meine Konten wegen eines Missverständisses gesperrt wurden, gewesen - als gerade ein japanischer Bankräuber hereinkam. Das erkannte ich an seinem Akzent. Als Abschreckung verpasste er mir eine Kugel in den Bauch. Sofort war José zur Stelle. Er fragte den Räuber, ob er sich um mich kümmern durfte. Ungewöhnlicherweise war jener damit einverstanden. Wir waren ganze zwei Stunden Geisel, denn die Polizei hatte das Gebäude umstellt. Aber als sich der Bankräuber kurz wegdrehte, sprang ich - immer noch blutend - auf seinen Rücken, entwendete ihm seine Waffe und landete wieder auf dem Boden, bloß hatte ich seine Waffe nun auf ihn gerichtet. Eine der Geiseln rannte nach draußen und informierte die Polizei über das Geschehen. José war völlig fassungslos ... und ich auch. Danach wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert. Nach dem Aufenthalt wohnte ich noch eine weitere Woche bei José, bis ich eines Tages kurz im Souvenirshop etwas kaufen wollte. Nach einer halben Stunde in dem Laden hatte ich die Nase voll und ging wieder zurück. Als ich dort aber ankam, fand ich nicht das Haus der López' wieder, sondern nur einen verbrannten Trümmerhaufen, die Feuerwehr und drei verkohlte Leichen. Das war die schlimmste Zeit während meiner Reise. Am nächsten Tag stand alles in der Zeitung. Es handelte sich um einen Mordanschlag, der eigentlich mir gegolten hatte. Man dachte, dass ich eine der Leichen war. Da ich die Sachen, die ich kaufen wollte, gleich in meinen Taschen verstauen wollte, hatte ich meine ganzen Besitztümer mit zu dem Souvenirladen genommen. Sie hatten nichts vom Feuer abbekommen. Man fand heraus, dass der Bankräuber und der Brandstifter zur japanischen Yakuza gehörten. Mir wurde schlecht, als ich das mitbekam. Ich wollte nur noch aus dieser Stadt heraus!
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