Es stimmt, es war ziemlich taktlos von mir gewesen, direkt zu Carmens Quartier zu marschieren. Mein Ebenbild hätte anwesend sein können und ich hätte meine Prinzessin damit in Schwierigkeiten gebracht. Aber ich hatte das nicht nur in Kauf genommen, ich hatte es eigentlich sogar genau darauf abgezielt. Denn ich dachte überhaupt gar nicht daran, mich im Hintergrund zu halten und darauf zu warten, dass Carmen sich meiner irgendwann wieder erinnerte. Ich war ein Pirat - sie hatte mich selbst so programmiert. Und ein Pirat nimmt sich, was er begehrt! "Wieso machst du es mir so schwer, hm?", fragte ich sie tadelnd. "Daddydaddydaddy!!" Klein Valentina ließ wieder ihren Schlachtruf ertönen und streckte erneut die Arme nach mir aus. "No!", widersprach Carmen ihrer Tochter und ging mit ihr auf eine Tür zu, dabei warf sie mir einen bitterbösen Blick zu. "No es tu daddy!" Ich sprach zwar kein Spanisch, aber ich verstand trotzdem ganz gut, was sie da gerade gesagt hatte. 'Das ist nicht dein Daddy!' Na ja, das war wohl relativ. Ich folgte den beiden zu dem Zimmer, in dem sie verschwunden waren - Valentinas Kinderzimmer - und lehnte mich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. Carmen hatte die Kleine auf eine Wickelkommode gesetzt und war jetzt dabei, sie auszuziehen. Aha, Bettzeit. Bisschen früh, wie ich fand, aber was wusste ich schon von kleinen Kindern? Ich war ja nur der digitale Ersatzliebhaber. Nein, nicht einmal das war ich, denn ich hatte zwar Erinnerungen an leidenschaftliche Momente mit Carmen, aber ich fühlte, dass die auch nur programmiert waren. Jetzt, wo ich in der Lage war, wirkliche Erfahrunen zu sammeln, erkannte ich den Unterschied zwischen "Gedächtnisimplantaten" und real Erlebtem. "Sprich mit mir, Carmen." Ich redete mit ihrem Rücken. "Es gibt nichts zu bereden. Du hast hier nichts zu suchen!" Sie war so völlig anders als sonst. Kalt, abweisend ... - Bislang war ich zuversichtlich gewesen. Voller Tatendrang und Entschlossenheit. Und eigentlich auch ganz gut gelaunt, weil ich es geschafft hatte, mein Überleben sicherzustellen. Ich war gespannt war auf alles Neue, das die wirkliche Welt zu bieten hatte. Ich wollte es mit allen Sinnen erfahren. Und natürlich wollte ich, dass sich die Beziehung zwischen Carmen und mir weiterentwickelte. Aber damit schien ich allein zu stehen. Sie wollte, dass ich verschwand. Aus diesem Raum, wahrscheinlich auch aus ihrem Leben. Sie bereute es, mich "erschaffen" zu haben. Weil es mit ihrem Mann wieder lief? So schnell konnten sich die Dingen wohl kaum zum Guten gewendet haben, sie hatte mein Programm nachmittags immerhin noch laufen lassen. Vermutlich lag es an meinem erwachten Bewusstsein. Es machte ihr Angst. Sie hatte einen Fehler gemacht, und nun existierte ich wirklich. Nicht nur in der Holosuite, wo ich ein harmloses Spielzeug für sie gewesen war, sondern in ihrem Leben, wo ich eine Gefahr für ihre Ehe darstellte. Sie befürchtete, mich hier nicht mehr kontrollieren zu können. Und sie befürchtete das zu Recht. "Hab ich nicht? Wo gehöre ich denn deiner Meinung nach hin?" "In die Holosuite!", kam es kategorisch, ohne dass sie sich zu mir umgedreht hätte. Valentina war inzwischen so gut wie fertig umgezogen und lugte an Carmens Kopf neugierig zu mir herüber - das "Daddydaddy"-Geschrei hatte sie dran gegeben, weil sie begriffen hatte, dass es nichts brachte, aber ich hatte dennoch ihre volle Aufmerksamkeit. Offenbar war der andere Frank Cunningham ein guter Vater, wenn seine Tochter so auf ihn fixiert war. "Aye ... schon klar. Am besten deaktiviert, bis es Madame wieder einfällt, sich mit mir zu vergnügen. Und wenn sie mich dann wieder einschaltet, bitte ohne Erinnerung an das, was heute passiert ist. Nicht wahr? Das wäre dir doch am liebsten. Wenn du morgen wieder einen kleinen Ausflug in die Karibik machen und dort mit deinem hohlen, unwissenden Piraten herumknutschen kannst, der glaubt, er wäre mit dir verheiratet und du seine große Liebe ... bis du ihn leid bist und ihn einfach wieder ausknipst. Ist doch völlig egal, dass du dabei auch jedesmal sein Herz ausschaltest. Es ist ja sowieso nicht echt." Ich hatte es nicht beabsichtigt, aber mein Tonfall war mit jedem Wort zynischer geworden. Programmiert oder nicht, ihr abweisendes Verhalten tat schon gehörig weh. Carmen hob die in einem rosa Frottee-Schlafanzug steckende Valentina hoch und setzte sie in ihrem Kinderbettchen ab. "Stimmt. Es ist nicht echt", gab sie mir dabei Recht. "Du bist nur ein Programm, das man an- und abschalten kann, wie man es gerade braucht, chico!" Sie zog die Bettdecke über Valentinas Beinchen, aber die Kleine machte keine Anstalten zu schlafen, sondern krabbelte zum Holzgitter und streckte ihr Händchen zwischen den Gitterstäben nach mir aus. Dabei sah sie mich aus großen Kulleraugen fragend an und meinte: "Daddy ... Natt-Tuss haben!" Sie wollten ihren Gute-Nacht-Kuss. Ich widerstand dem Impuls, auf Valentinas Bitte einzugehen und sah wieder auf Carmens Rücken, der sich bei der Bitte ihrer Tochter versteift hatte. "Bin ich das wirklich?", fragte ich leise. Ich löste mich vom Türrahmen und trat dicht hinter Carmen. "Kannst du mich nicht fühlen?" Sanft umfasste ich ihre nackten Oberarme mit meinen Händen und streichelte mit meinen Daumen federleicht über ihre warme Haut. Dann ging ich noch einen Schritt weiter und drehte sie zu mir herum. Ihre dunklen Augen verengten sich unwilllig, und sie spannte sich an, als ob sie sich mir entziehen wollte. Doch nach ein, zwei Sekunden wurde ihr Blick weicher, forschender. "Spürst du das hier nicht?", raunte ich weiter und beugte mich langsam zu ihr hinab, bis meine Lippen sachte ihre berührten - meine Augen dabei ohne Unterbrechung auf ihre geheftet, um sie so an mich zu binden. Es gelang mir. Ihr Blick begann zu flattern und ihr Mund öffnete sich ein wenig. Mehr brauchte ich nicht. Ich verschloss ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss und zog sie dabei eng an mich, eine Hand in ihrem weichen, langen Haar vergraben. Sie erwiderte meinen Kuss, und sie tat es mit Hingabe. Und sie schmiegte sich an mich, dass ich die Hitze ihres Körpers durch den Stoff ihres Kleides und den meines Hemdes hindurch fühlen konnte. Bilder von ihr, nackt und verschwitzt in meinen Armen, schossen mir durch den Kopf und brachten meinen Blutdruck zum Steigen. Erinnerungen, die keine waren, ich wusste das ... aber jetzt war es mir egal. Eines Tages würden sie real sein, dafür wollte ich schon sorgen. Eines Tages würde diese Frau wirklich mir gehören. Das schwor ich mir in diesem Augenblick.
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