2. HMS Lucky
Ich ließ den Brief wieder sinken. Mein Herz schien auf einem Schlag pro Minute verlangsamt zu sein. Ich schaute in die Runde und Gesichter kamen freudestrahlend auf mich zu, Arme umarmten mich und Hände schüttelten die meine. Ich verstand nicht richtig was die Leute sagten. Als sie wieder von mir abließen, hob ich erneut meinen Brief und las in nochmal durch. Nein, es war kein Fehler. Es stimmte alles. Ich war zum Master and Commander befördert worden. Ich durfte mein eigenes Schiff kommandieren. Mein eigenes Schiff! Die Lucky. Eine Schnau. Eine Sloop-of-War. Ich wusste nichts über dieses Schiff, außer dass es eine Schnau war. Sie musste nicht sehr groß sein, maximal 90 Fuß lang. Wie viele Geschütze? 14? 18? 22? Oder noch weniger als 14? Mit Sicherheit Sechspfünder! Ich wollte das alles sofort wissen, doch ein Gesicht riss mich wieder in die Realität zurück. Cromwell war vor mir aufgetaucht und schaute mich distanziert an. "Meinen Glückwunsch, Mister Caldwell. Eine Schnau ist ein sehr tüchtiges Schiff. Ich bin mir sicher, sie wird in besten Händen sein." Auch wenn seine Stimme wieder gewohnt hochnäsig klang und er so aussah, als ob er sonst wo gerne wäre, nur nicht hier; waren seine Worte um einiges herzlicher und sehr viel respektvoller als sonst. Obwohl noch immer distanziert, wirkte er nun etwas kameradschaftlicher. Dennoch, ich freute mich über seine Aussage und drückte die Hand, die er mir entgegenstreckte. Meine Beförderung hatte meine Mutter auch dabei. Sie war unter den vielen Briefen versteckt, die sie kurz vor der Abreise mitgenommen hatte. Darin stand es nochmal mit einem ganzen Schwung mehr an Glückwünschen seitens des ersten Seelords. Nun hatte ich es ein für allemal akzeptiert und Glücksgefühle strömten in mich hinein.Ich war nun kein Lieutenant mehr. Ich war nicht mehr der erste Offizier auf einem Kriegsschiff. Ich musste, wenn wir alleine unterwegs waren, auf keinen mehr hören, außer auf die schriftlichen Befehle der Admiralität oder eines Hafenadmirals. Ich bekam einen besseren Sold. Ich war nun Master and Commander. Als Commander war ich, auch wenn der Begriff irreführend ist, kein Captain. Ich befahl zwar ein Schiff, doch bloß ein nichtklassifiziertes Kriegsschiff, welches man in der Royal Navy als Sloop oder Sloop-of-War bezeichnete. Es waren in der Regel ein- bis dreimastige Schiffe mit 20 Kanonen, wobei es manchmal auch mehr oder weniger waren. Sloops wurden meistens in Küstennähe als Depeschenschiffe, Postschiffe oder Aufklärer, manchmal auch als Prisenschiffe, verwendet. "Captain Caldwell!", dröhnte meine Mutter, die nach dem sechsten Glas Wein immer breiter grinste. Es war lustig. Die Ausdrücke der Navy waren oft mehr als nur irreführend. Als Commander einer Sloop nannte man mich Captain, obwohl ich den Rang eines Commander hatte. Wenn ich irgendwann einmal zum Captain befördert werden würde, wäre ich nachwievor der Kommandant, der Commander, eines Schiffes, sofern man denn ein Schiff zur Verfügung haben würde. Denn ohne Schiff wäre ich nur ein Post-Captain - ein "Gestrandeter". Aber solche Details kümmerten niemanden. Die Gesellschaft wusste stets, dass jeder, der auch nur eine Nussschale befehligte, ein Captain war ... oder ein Commander. Der Abend hatte sich dem Ende zugeneigt und alle Gäste, die noch übrig waren, suchten ihre Zimmer auf. Am nächsten Tag besuchten wir die Bath Abbey und machten einen langen Spaziergang in den naheliegenden Hügeln. Ich hörte oft nicht hin, wenn sich die anderen unterhielten und über die schöne Landschaft und das milde Frühlingswetter unterhielten. Als wir einen Ausflug zum Bristol Channel machten, stellte ich mir die noch kontur- und farbenlose Lucky vor, wie sie in der Nähe des Ufers ankerte und auf mich wartete. Erst als wir uns verabschiedeten; meine Mutter nahm mit Onkel Joe die Kutsche nach Edinburgh; überkam mich ein mächtiges Gefühl der Ungedult. Ich war mit einem wirklich mulmigen Gefühl in die Kutsche gestiegen, die mich nach London bringen sollte. Ich hatte mein gesamtes Ersparnis dabei und wollte für die nächsten Tage, vielleicht sogar Wochen, in einem Gasthaus unterkommen, denn die Admiralität hatte mir vorgeschrieben am 21. April zu erscheinen.
Ich erreichte London am späten Abend. Die Kutsche brachte mich nach Covent Garden, einem berüchtigten Ort mit leichten Damen, aber ebenso einem riesigen Markt, auf dem Waren aus aller Welt verkauft wurden. Ich hatte mir vorgenommen, den Markt in den nächsten Tagen zu besuchen. Meine Unterkunft, das A Fiddler's Tale, lag etwas abseits vom Getöse, Gebrülle und Getanze der Betrunkenen. Der Kutscher bog in eine kleine Nebenstraße und hielt plötzlich. Es regnete. Es regnete sogar sehr. Zudem war es eisekalt und zu allem Überfluss hatte die Kutsche keine Bedachung. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren und war mir ziemlich sicher, dass ich nie wieder trocken werden konnte. Der Kutscher, ein steinalter Mann, der seine Zähne schon vor Jahren hatte einbüßen müssen; sprang leichtfüßig vom Kutschbock hinunter und griff nach meiner Seekiste, die er behutsam unter der Laterne des Gasthauses abstellte. Ich hatte ihm eine solche Stärke und Robustheit gar nicht zugetraut. "Nun, Sir, das sind wir!", sagte er freudestrahlend, als ob ihm der Regen ihm den Tag versüßen würde, wobei andere sich üblicherweise an Sonnenschein ergötzten. "Vielen Dank, Mister Wright. Bitte nehmen Sie das, Sir." Ich griff in meinen Geldbeutel und holte eine Guinee heraus, die ich ihm in die Hand drückte. Der Mann bedankte sich lächelnd, wobei "Lächeln" in diesem Fall bedeutete, dass er seinen schwarzen, zahnlosen Schlund öffnete; stieg wieder auf die Kutsche und fuhr in die Nacht hinein. Ich band meinen Mantel enger zu und klopfte an der Tür. Das Abendessen war wohl schon vorüber, denn ich hörte keine Stimmen mehr. Durch das Fenster schien noch ein Licht, was bedeutete, dass noch jemand wach war. Ich klopfte erneut, doch wieder war nichts außer dem Plätschern des Regens zu hören, der allerdings immer weiter abnahm. Ich drehte mich herum und blickte die Straße auf und ab. Die Sicht war schlecht. Es hatte sich viel Nebel gebildet und man erkannte nur die milchigen Lichter der Straßenlaternen. Niemand war mehr auf den Straßen unterwegs und auch das Gegröle nahm stetig ab. Ich klopfte erneut und hörte schließlich ein Geräusch. Es klang nach Schritten, die hastig eine Treppe herunterkamen. Die Tür öffnete sich und eine Dame von etwa fünfzig Jahren öffnete die Tür. "Ach du meine Güte. Was möchten Sie denn, Sir? Sagen Sie bloß, Sie wollen zu dieser gottlosen Stunde noch etwas essen." "Guten Abend, Misses. Verzeihen Sie mir bitte, dass ich erst so spät hier erscheine. Ich hatte eine sehr lange Reise hinter mir. Verzeihen Sie, aber haben Sie noch ein Zimmer frei, welches ich für längere Zeit mieten kann?", fragte ich und das Entsetzen auf ihrem Gesicht erlosch sofort. "Oh, aber natürlich. Sie müssen ja halb durchgefroren sein, mein Lieber. Kommen Sie, wir haben noch ein Zimmer im obersten Stock frei." Ich hob meine Seekiste auf und folgte ihr ins Haus hinein. Auf dem Tisch brannte eine einsame Kerze und daneben lag ein leerer Teller. Offensichtlich hatte sie gerade zu Abend gegessen. Der Schankraum war nicht sonderlich groß und das gesamte Gasthaus musste nicht mehr als 9 Zimmer haben. Sie öffnete eine Tür und bat mich ihr zu folgen. Hinter der Tür ging es wohl nach oben zu den Zimmern. Es war eine recht enge Treppe, sodass ich Mühe hatte meine Seekiste nach oben zu wuchten. "Lassen Sie mich helfen", sagte sie und zerrte von oben an der Kiste. "Du liebe Güte. Darin müssen mindestens Klamotten für einen ganzen Winter sein." Sie schaffte es die Kiste mit einem gewaltigen Ruck auf den Boden der ersten Etage zu hieven und schnaufte einmal kurz durch. "Ist nicht mehr weit. Die nächsten beiden Treppen sind etwas breiter. Was führt Sie denn nach London, wenn ich fragen darf?", sagte sie im Flüsterton und ging voran. "Ein Besuch bei der britischen Admiiralität. Ich bin vor kurzem zum Master and Commander befördert worden", sagte ich stolz und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. "Meinen Glückwunsch, mein Lieber! Dann gedenken Sie länger hier zu bleiben?" "Ja, bis zum 21. April ... oder vielleicht etwas länger", antwortete ich und setzte an der nächsten Treppe an. "Das ist ja noch eine Wochen. Ich denke, wir können einen guten Preis vereinbaren. Normalerweise kostet eine Nacht 5 Pence, aber ich denke, wir können daraus 3 Pence machen. Was halten Sie davon, Sir? Das wären 21 Pence für zwei Wochen, oder besser gesagt, 1 Schilling und 9 Pence. Was meinen Sie?" "Das klingt großartig, Misses ..." "Brown, Sir. Mildret Brown. Mein Mann, Stewart, leitet dieses Gasthaus und wird sich morgen früh um Sie kümmern. Gerade schläft er. Und mit wem habe ich das Vergnügen?" "Mit William Caldwell, Misses Brown." "Fein. Da wären wir", sagte sie und stieß die Tür auf. Das Zimmer war wahrlich nicht groß, doch war es sauber und warm. In der Ecke brannte ein kleiner Kachelofen und ein großer Schrank schmückte die Wand gegen über des kleinen Einzelbetts, welches unweit vom Dachfenster stand. "Frühstück gibt es ab sechs Uhr und Abendessen ab 18 Uhr mit offenem Ende. Aber bloß nicht zu einer solche unchristlichen Zeit, Sir. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht", sagte sie und schloss die Tür. Ich stellte meine Kiste am Fußende des Betts auf und hing meine vollkommen durchnässten Kleider vor dem Ofen auf. Ich lag noch lange in meinem Bett wach und fragte mich, wie es wohl werden wird. Ich musste mich wieder an die See gewöhnen, das stand fest. Seit acht Monaten war ich nicht mehr auf See. Ich dachte darüber nach, wie mein Offizier sein würde, wie meine Crew sein würde und wie es sich auf einem solch kleinen Schiff wohl leben würde. Die Lucky konnte nicht länger als 90 Fuß sein, was bedeutete, dass wir auf sehr engem Raum leben würden. Meine Gedanken kreisten weiter, ich dachte über den Auftrag nach, wie er verlaufen würde, was mich erwartete. Ich dachte an Gefechte. Und wieder kam mir die Frage auf: Wie gut war sie bewaffnet? All diese Fragen und Szenarien, die ich mir vorstellte, wiegten mich langsam in den Schlaf.
Am nächsten Morgen wachte ich relativ spät auf. Ich brauchte den Schlaf, da ich in Zukunft wahrscheilich nicht mehr so schnell Erholung bekam. Es war ein wundervoller Tag. Ich öffnete das Fenster und atmete tief durch. Vereinzelte Wolken bedeckten den strahlend blauen Himmel. Der Regen hatte große Pfützen zurückgelassen und die Leute in den Straßen schlängelte gekonnt um sie herum. Ich begab mich hinunter zum Speiseraum und Mister Brown nahm mich schon freudestrahlend in Empfang. "Guten Morgen, Mister Caldwell. Haben Sie gut geschlafen, Sir?", fragte er als ich mich an den Tisch setzte. "Sehr gut, vielen Dank. Hätten Sie vielleicht etwas Spiegelei und Schinken für mich? Und eine Tasse heiße Schokolade? Das wäre sehr nett", antwortete ich und blickte aus dem trübe Fenster. Schatten zogen an ihnen vorbei und manchmal kam ein freundlicher Gruß zum Morgen. Nachdem ich gegessen hatte und die herrlich schmeckende Schokolade leer getrunken hatte, vertrieb ich mir die Zeit mit dem Besuch auf dem Markt, der wirklich tolle Sachen zu bieten hatte. Wachen aus aller Welt türmten sich an den Ständen: Gewürze aus Indien und den Pazifikinseln, Skulpturen aus Südamerika, Bücher, Gemüse, Schnitzereien, Werkzeuge und Haushaltsgegenstäde. Zwischen den zahlreichen Briten tummelten sich auch viele Ausländer herum. Manche waren Händler, andere Geschäftsreisende und wiederum andere kamen bloß zu Besuch in die Stadt. Ein preußischer Geschäftsmann unterhielt sich gerade mit einem brasilianischen Händler über eine Wurzel, die laut dem Werkäufer wie eine Kartoffel schmecken musste, was der Preuße aber nicht so recht glauben mochte. Sofort drehte sich der Mann um und griff nach einer gekochten Wurzel, die er ihm dann andrehen wollte, doch der Preuße schritt zurück und und schüttelte kräftig mit dem Kopf. Für mich sah die Wurzel aber appettitlich aus. Ich näherte mich dem Verkäufer und fragte ihn mit meinem gebrochenen Portugiesisch: "Com licença, senhor. Quanto custa esse?" "Ohh o senhor fala português. Donde é, senhor? Eu sou de Bahia. Já visitou, senhor?" "Verzeihung, Sir. Mein Portugiesisch ist nicht sehr gut. Verstehen Sie Englisch?" "Ahh ja. Ich verstehe ein bisschen. Sie haben ein sehr gute Aus... Aussprache, senhor. Wo haben Sie gelernt?" "In Lissabon, Sir. Ich wohnte dort für wenige Wochen, da unser Schiff ein paar portugiesische Händler eskortiert hatte." "Ahh Sie sind in der Royal Navy?", fragte er und legte die gekochte Wurzel zur Seite. "Ganz recht. Commander William Caldwell, Sir." Ich verbeugte mich leiht vor dem Mann. "Federico Coutinho", antwortete der Mann und verbeugte sich ebenfalls. "Darf ich Sie zu dieser Köstlichkeit einladen, Sir?", fragte ein Mann hinter mir, der das Gespräch offenbar mitbekommen hatte. Ich drehte mich verwundert um und blickte einem leicht gebräunten Mann in mittelständischer Kleidung an, der sich vor mir verbeugte. "Inácio Moreira de Cardoso, zu Ihren Diensten, Sir." Ich verbeugte mich auch vor ihm und stellte mich ebenfalls mit William Caldwell vor. "Nun, wie ich sehe interessieren Sie sich für diese sehr kostbare Schönheit, nicht wahr? Diese Wurzel nennt sich Aipim und schmeckt tatsächlich wie eine Kartoffel, vielleicht etwas mehliger, aber in Butter gebraten schmeckt sie wirklich ausgezeichnet." Mit diesen Worten holte Federico eine weitere Wurzel aus seinem Bestand und schälte sie, damit er sie kochen und anschließend braten konnte, wie Senhor Cardoso sagte. Federico überreichte mir die gebratene Wurzel, die mit Butter und Salz überzogen war, und lächelte. Ich biss hinein und stellte fest, dass die hart gebratene Wurzel tatsächlich wie eine Kartoffel, oder eher wie eine Bratkartoffel, schmeckte, mehliger, wie Mister Cardoso sagte. "Wirklich ausgezeichnet", sagte ich und aß den Rest auf. Mister Cardoso griff in seine Tasche und holte zehn Schilling heraus, die er dem Verkäufer gab. Ich war überrascht über den hohen Preis dieser Wurzel und verstand allmählich, warum der Preuße davor zurückgeschreckt war. Mister Cardoso las offenbar meine Gedanken und sagte dann mit einem Lächeln: "Die Pflanze wird in Südamerika angebaut, allerdings wurde das Exemplar, welches sie aßen, hier in London in einem Gewächshaus angebaut. Es würde die Fahrt bis hier her nicht überstehen." "Verstehen Sie sich auf Pflanzen, Sir?", fragte ich, denn der Mann machte auf mich einen recht gelehrten Eindruck. "Ein wenig, ja. Ich besuchte in meiner Jugend oft den Regenwald im Amazonasgebiet und die sogenannte Mata Atlântica zwischen Asunción und Recife. Vor allem in das Gebiet der Mata Atlântica lohnt sich ein Besuch, denn es ist wirklich ein atemberaubend schöner Ort. Unwahrscheinlich viele versteckte Buchten und weitreichende Berge, vor allem bei Rio de Janeiro und São Paulo." "Sie sprechen auch Spanisch, Sir?" "Ahh Sie meinen, weil ich Asunción bei seinem spanischen Namen nenne. Sehr gut gehorcht, Senhor. Im Portugiesischen würde man Assunção sagen. Aber ja, ich spreche Spanisch. Als Kind der Stadt São Paulo traf ich viele Händler aus den verschiedensten Regionen Südamerikas. Später führten mich meine Reisen auch nach Europa, wo ich die großen Sprachen der Gelehrten erlernte. Französisch, Englisch und Italienisch. Aber Sie scheinen auch Spanischen und Portugiesischen mächtig zu sein, wie ich sehe?" "Ja, Sir. Portugiesisch lernte ich als junger Lieutenant vor einigen Jahren in Lissabon. Wir hatten dort portugiesische Händler eskortiert. Somit verbrachten wir einige Wochen dort, da unser nächster Befehl viel später antraf, als wir erwartet hatten. Somit hatte ich die Gelegenheit die Sprache und die Einheimischen kennenzulernen. Eine wirklich tolle Stadt. Wunderschön, kulturreich und doch ..." Ich unterbrach. Meine Füße konnten nicht mehr weiterlaufen. Ich erkannte es auch an Mister Cardosos Gesichtsausdruck. Er nickte zustimmend und schaute betreten in Richtung Boden. Wir beide wussten, was vergangenes Jahr mit der Stadt passiert war. Ein gewaltiges Erdbeben hatte den unteren Teil der Stadt in Schutt und Asche gelegt, wobei ein riesiges Feuer sich in der gesamten Stadt ausgebreitet hatte. Wenig später hatte eine Flutwelle den unteren Teil der Stadt überrollt, die zwar die Brände gelöscht hatte, aber die noch stehenden Gebäude mit sich gerissen hatte. Knapp ein Viertel der Bevölkerung der Stadt und einigen umliegenden Dörfern waren dabei gefallen. "Ich hatte die Stadt vor dem Beben kennengelernt. Einige Monate vor dem Beben, um genau zu sein. Es macht mich wirklich sehr traurig, dass Gott dies zuließ." "War es wirklich Gott?", fragte Mister Cordoso und hielt erneut an. "Wie meinen? Sie meinen ... es gibt noch etwas anderes, was eine solch gewaltige Zerstörung anrichten kann?", fragte ich verwundert und hielt ebenfalls an. "Die Natur steckt wirklich voller Geheimnisse. ich wage nicht im Entferntesten darüber zu behaupten, dass dieser Akt der Zerstörung keine erklärbare Ursache hatte. Aber die Menschen glauben sehr schnell an Gottes Werk, wenn sie etwas sehen oder erleben, was sie nicht begreifen können. Ich will keinesfalls negieren, dass Gott dafür verantwortlich sein könnte. Doch wir sollten nie voreilig unsere Schlüsse ziehen, über etwas, worüber wir eigentlich gar nichts wissen. Vergessen Sie nicht: Es galt mal als Mode die Welt als flache Scheibe zu sehen, nicht als Kugel. Ich denke, wenn einer von uns beiden das am ehesten beweisen kann, dass die Erde eine Kugel ist, dann Sie, Sir! Haben Sie den Planeten schon einmal umrundet?" "Nein, leider noch nicht. Meine Reisen hatten mich zwar schon einmal zum Kap der Guten Hoffnung und nach Indien gebracht, allerdings umschifften wir für Indien Kap Hoorn und für das Kap der Guten Hoffnung Afrika. Aber ich bin sicher, dass ich es eines Tages tun werde, obwohl es hundsgefährlich ist, denn Nahrungsmittel gehen vor allem auf der Pazifikreise zwischen Kap Hoorn und Ostindien aus, da Häfen nicht angelaufen werden." Mister Cardoso war ein wirklich interessanter Gesprächspartner. Wir unterhielten uns viel über die Reisen, die wir angetreten waren; über unsere Familien, über unsere Zukunftspläne und darüber, wie wir Geld machen wollten. Er ließ durchblicken, dass er ein passabler Arzt war und dass er gerade auf Suche nach einer neuen Anstellung war, da er vorerst dem tropischen Klima Brasiliens entkommen wollte und deshalb in Europa war.
In den nächsten Tagen besuchte ich einige Geschäfte, Buchläden und Bibliotheken, durchstöberte Bücher, las ausländische Literatur, kaufte neues Ölzeug beim Marineschneider und ließ mein Abzeichen auf der anderen Schulter anbringen. Ich musste mir noch irgendwie die Zeit vertreiben, denn ich war tatsächlich eine Woche zu früh da. Es wäre töricht gewesen, wenn ich nach dem Besuch im Hause meines Schwagers wieder nach Edinburgh zurückgekehrt wäre, denn die Reise war lang und ncht billig. So tarf ich einige Male Mister Cardoso, der, wie er mir mitgeteilt hatte, im Gasthaus "Mary's Garden quartierte, und zwar für 2 Pence pro Nacht. Ich hatte überlegt, ob ich meinen vorläufigen Wohnsitz nicht besser dorthin verlegen sollte, doch Mister Cardoso hatte mir in freundschaftichem Ton davon abgereaten, denn der Fisch, den sie dort servierten, schmeckte nach Hühnereiern. "Wo wäre das Problem?", sagte mein Begleiter, während er einen Braten hinunterwürgte. "Ich mag Eier, ich würde sogar behaupten, dass jedermann Eier mag. Doch ein Fisch sollte nicht nach Eiern schmecken, sondern nach Fisch." Dagegen gab es nichts einzuwenden. Mister Cardoso, der mir freundllicherweise angeboten hatte, ihn Inácio zu nennen, hatte ebenfalls überlegt umzuziehen. "Aber ich fürchte, ich kann mir das nicht länger Leisten. Meine Finanzen neigen sich dem Nullpunkt zu und ich muss sehen, dass ich eine geeignete Arbeit bekomme. Aber in einer Weltstadt wie London wurden die Ärzte praktisch erfunden." "Das ist wirklich sehr bedauerlich. Ich hoffe, ich kann dir irgendwie behilflich sein", sagte ich und schenkte ihm noch einen Wein ein. "Bitte, bemühe dich nicht. Du solltest dich auf die kommende Aufgabe konzentrieren. Morgen schon wirst du nach Portsmouth fahren." Das dachte ich auch. Portsmouth war der logische Hafen für ein Schiff der Royal Navy, somit würde ich höchstwahrscheinlich dorthin fahren.
Am nächsten Tag stand ich sehr früh auf, denn das folgende Gespräch, obwohl es vermutlich nicht länger als fünf Minuten daueren würde, machte mich recht nervös. Ich wünschte Misses Brown einen guten Morgen, schlang meine Eier mit Speck hinunter und begab mich auf den Weg in Richtung Whitehall. Das dreistöckige Admiralitätsgebäude, welches aus Ziegelsteinen bestand, wirkte trotz seiner Einfachheit recht majestätisch. Ich betrat das Gebäude durch den Eingang von Whitehall aus und betrat, als der Portier freundlicherweise das Portal öffnete, das Gebäude. Im Inneren waren schon einige Offiziere unterwegs. Es waren frische Lieutenants, die ihre Examen bestanden hatten oder Kadetten, die sie nicht bestanden hatten. Kapitäne und andere Comander streiften ebenfallls durch das Gebäude, auf der Suche nach dem richtigen Zimmer, und Admiräle, die entweder hier arbeiteten oder Befehle empfingen, stolzierten selbstbewusst umher. Das Büro des ersten Seelords war gut besucht. Auch hier saßen vor der Tür zahlreiche Offiziere, die auf eine Audienz warteten, während der Portirer schnurgerade davor stand und keine Miene verzog. Ich wartete geduldig auf meinen Aufruf, der um 11 Uhr erfolgen sollte. Zwei Minuten, nachdem der vorige Offizier mit einem aus dem Büro schallenden Gebrüll rausgeworfen wurde, war ich an der Reihe. Ich betrat das Büro und setzte dabei meine neutralste Miene auf, die ich aufbringen konnte, während Sir William Rowley persönlich seine Perücke wieder richtete und mit einem zornesroten Gesicht sich wieder setzte. "Ja?", fuhr er mich an als er mich durch die Tür kommen sah. "Mast and Commander William Caldwell, Sir", sagte der Portier und verbeugte sich. Ich salutierte kurz und blieb dann, ohne den Admiral anzusehen, vor seinem Schreibtisch stehen. "Nun gut, Commander Caldwell", begann er und holte einmal tief Luft. "Bitte setzen Sie sich ... Fein. Sie fragen sich sicher, weshalb ich Sie persönlich sprechen wollte, weshalb Sie Ihre Befehle von mir bekommen und weshalb Sie auch die Beförderung von mir erhielten. Sie sind recht jung für einen Commander, richtig? 22, wenn ich mir das hier richtig ansehe, doch Ihre Taten sprechen für sich. Captain Wyatt hatte Sie mehrheitlich als ausgezeichneten Offizier bezeichnet und wenn das alles stimmt, was er über sie schrieb, bin ich mir sicher, dass Sie eine ausgezeichnete Karriere vor sich haben werden", sagte der Admiral und zeigte die Spur eines Lächelns. Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Solche hochlobenden Komplimente von einem derart hochdekorierten Admiral und Diener des Königs zu hören, war eine pure Seltenheit. Ich war mir sogar sicher gewesen, dass Admiräle zu solchen Gefühlsäußerungen vollkommen unfähig waren. Doch dieser Mann war der Beweis für das Gegenteil. "Nun denn. Sie erhalten den Befehl heute nach Plymouth zu reisen, Seine Majestät Sloop Lucky zu übernehmen und einen Passagier mit einer wichtigen Fracht nach Nordamerika zu bringen. Hiermit erhalten Sie den Befehl, Mister Caldwell", sagte er und überreichte mir einen Briefumschlag mit einem Siegel der Admiralität darauf. "Vielen Dank, Sir. Aber dürfte ich erfahren, um welchen Passagier es sich handelt? Wie heißt er und wo treffe ich ihn an?" "Sein Name ist Charles Farnsworth. Er ist ein Kaufmann aus Boston und wird auf Sie heute Abend in der Marinewerft warten. Ich nehme an, dass Sie das Schiff bis übermorgen startklar bekommen?" "Sehr wohl, Sir. Das werde ich tun." "Sehr gut. Das Schiff ist erst letzte Woche in Dienst gestellt worden. Es ist also sehr neu. Ich bin mir sicher, dass Sie erstaunt sein werden, wenn Sie es sehen. Es ist ein Prototyp und soll den zukünftigen Schiffsbau einleiten."
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