Prolog Irgendwo im Wald kreischte ein Tier, das sie anhand des Geräusches nicht zu identifizieren vermochte. Sie lag seit Stunden wach und lauschte dem regelmäßigen Atmen ihrer schlafenden Eltern. Ihre kleine Schwester redete im Schlaf wirres Zeug, wie sie es jede Nacht tat. Jemand drehte sich auf die Seite, und sie wusste sofort, dass es ihr Vater war, denn in dem Moment, als das Rascheln des Lakens verklungen war, setzte ein ohrenbetäubendes Schnarchen ein. Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, so lange ohne Schlaf auszukommen, aber sie machte seit Tagen schon kein Auge mehr zu. Sie musste immer an die Worte ihrer Mutter denken ...
„Mama, wann werde ich meine große Liebe finden?“ „Wenn es dazu an der Zeit ist, mein Engel!“, hatte ihre Mutter geantwortet. Sie war damals 14 Sommer alt gewesen. „Und wann kommt diese Zeit?“, hatte sie gefragt in der Hoffnung, diese Zeit wäre festgesetzt und sie bräuchte nur noch darauf zu warten. „Das weiß niemand. Irgendwann weißt du es einfach, wenn der Richtige vor dir steht.“ „Aber hier kann mich doch keiner leiden ... zumindest die Jungs nicht“, hatte sie gejammert, und ihre Mutter hatte ihr tröstend über den Kopf gestreichelt. „Ich kann es dir nicht erklären, aber dein Herz wird dir irgendwann sagen, wann es so weit ist, deinen Mann zu treffen. Bis dahin wirst du nur von ihm träumen können.“ Daraufhin war sie zu ihrem Vater gelaufen und hatte sich die Seele aus dem Leib geweint. Doch auch er konnte sie nicht trösten. Das einzige, was er noch sagte, war: „Schatz ... hör doch auf zu weinen ... irgendwann kommt schon noch deine Zeit!“
Wie hatten sie so etwas sagen können? Seitdem waren vier Jahre vergangen und nichts war geschehen. Ihre beste Freundin hatte ihr erzählt, dass es unheimlich gewesen war, als sie plötzlich vor Mardur gestanden und gewusst hatte, dass er der Richtige für sie war, doch selbst sie konnte ihr nicht sagen, wie es vonstatten ging. Es war fast so, als würden die Liebenden vergessen, wie sie sich kennen gelernt hatten. Sie war enttäuscht. Enttäuscht von sich selbst. Jede Nacht seit drei Monden lag sie wach in ihrem Bett, tat so als ob sie schliefe und lauschte in die Dunkelheit. Musste nicht irgendwann auch für sie jemand kommen? Oder war sie es nicht wert, geliebt zu werden? In dieser Nacht war es anders. Irgendetwas hatte sich verändert, doch sie war nicht in der Lage zu erkennen, was sich verändert hatte. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit und hoffte zu erfahren, was mit der Nacht geschehen war. Aber noch bevor sie es wusste, hörte sie einen leisen Ruf. Es klang zuerst wie ein seichter Windhauch, der durch ein halbgeöffnetes Fenster herein kam, doch der Ruf schwoll an, und dies konnte kein Wind mehr sein, ohne dass er das Haus aus dem Baum herausgerissen hätte. Sie riss die Augen erschrocken auf, als sie verstand, dass der Wind nur in ihrem Kopf existierte. Sie fröstelte. Es war so unheimlich, dass sie sich das weiche Laken über den Kopf zog und sich versteckte. Der Ruf wurde jedoch so unbeschreiblich stark, dass sie ihm nicht mehr ausweichen konnte. Sie kam wieder unter ihrer Decke hervor, konzentrierte sich auf ihren Atem und hörte dem Wind angestrengt zu. „Geliebte ...!“, schien der Wind zu rufen, doch das konnte nicht sein. „Geliebte ...!“ Der Ruf wiederholte sich, und sie fröstelte erneut. Hinter ihren Augen entstand ein Bild. Ein Fluss. Eine Lichtung. Silbernes Mondlicht. Ein junger Elf am Flussufer. Ein sanfter Wind spielt mit seinem Umhang. Das Bild war so real, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war und wer sie war. Der Elf drehte sich um, und sie blickte ihm direkt in das atemberaubende Gesicht. „Geliebte ...“, flüsterte er erneut. Er hob eine Hand, als wollte er sie berühren, aber er konnte sie nicht erreichen. „Geliebte ... komm zu mir! ... Oh, Geliebte ... hör meinen Ruf!“ Mechanisch, ohne dass sie wusste, was sie tat, setzte sie sich auf und stieg aus dem Bett. Sie war nicht mehr bei Bewusstsein, doch sie machte keinen Laut. Sie kniete sich vor ihrem Bett nieder, um ihre Kleider hervor zu holen. Sie wickelte sie in ein Tuch und band sich das Stoffbündel um den Leib, sodass sie es beim Laufen nicht verlor.
_________________ Nebel zieht dich in das Meer Beißt sich fest in deine Kehle Deine Augen trüb und leer Schwarze Spiegel deiner Seele
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