Kanada, Hütte. Neun Monate später …
Heiligabend. Alles brennt.
Alles, was brennen
soll, versteht sich. Der große, grüne Weihnachtsbaum in der Ecke zwischen Kamin und Fenster zum Beispiel, den neben vielen kleinen echten Kerzen nur noch Strohsterne schmücken. Der Kamin selbst auch, in dem es flackert und knistert. Und dann die großen, gelben Bienenwachskerzen auf dem Fensterbrett, dem Esstisch und dem niedrigen Couchtisch, deren süßer Honigduft sich sanft mit dem aromatischen des brennenden Buchenholzes mischt.
Der ganze Raum erstrahlt golden – ein wunderschöner Anblick, ganz besonders vor der dunklen Nacht hinter den Fensterscheiben und den dicken Schneeflocken, die sanft davor zu Boden fallen. Korben kann sich nicht daran erinnern, Weihnachten jemals so festlich begangen zu haben wie diesmal. Nicht einmal in seiner Kindheit.
Wow! ’Ne ziemlich feine Hütte hast du da gezaubert, Junge!Kann man wirklich sagen.
Aber er hat sich auch Mühe gegeben! Hat am Morgen aufgeräumt, Staub gewischt und Socken an den Kamin gehängt. Hat dann den Holzboden geschrubbt, die Fenster geputzt und im Schuppen die dicken Webteppichläufer ausgeklopft. Nachdem er die wieder da platziert hat, wo sie seiner Meinung nach hingehören und den übrigen Holzboden mit frischen, duftenden Tannenspitzen bedeckt hat, hat er sich an den Esstisch gesetzt und gebastelt.
Kastanientierchen.
Eine
Menge Kastanientierchen.
Inzwischen bevölkern Kastanientierchenherden den Kaminsims, den Couchtisch, den Esstisch und die Fensterbänke. Ein paar sind auch auf der Treppe zum Obergeschoss gelandet. Die hat Korben woanders beim besten Willen einfach nicht mehr unterbringen können.
Sein Baby hat währenddessen zweimal das süße Näschen in den Wohnraum gesteckt und über sein Tun gegrinst.
Breit gegrinst!
Muss die Vorfreude gewesen sein. Kann unmöglich an seinem karierten Taschentuch gelegen haben, das Korben sich vor dem Putzen als Kopftuch um den Kopf gebunden hat. Oder an ihren Plüschpuschen, die er sich ausgeliehen hat, um auf dem frisch geputzten, aber saukalten Fußboden keine Eisbeine zu kriegen.
Wie auch immer, auf jeden Fall hat Korben seine Kleine beide Male wieder weggescheucht. Zuschauer kann er keine gebrauchen. Schon gar keine Zuschauer mit kugelrunden Babybäuchen, die sich weder bücken noch strecken noch irgendwas tragen oder ihm sonstwie hilfreich sein können und die im Bett sowieso besser aufgehoben wären. Oder in der Küche. Weshalb Raven nach dem ersten Mal wieder im Schlafzimmer verschwunden ist und nach dem zweiten Mal in besagtem Kochbereich.
Vernünftiges Mädel.
Wenigstens hin und wieder.
Obwohl die Vernunft bei ihr mit zunehmender Schwangerschaft schon irgendwie abgenommen hat. Findet er zumindest.
Allein schon das Ding vom Sommer, wo sie an einem anscheinend viel zu heißen Abend auf die verrückte Idee gekommen ist, das Kind doch lieber in der Hütte zur Welt zu bringen statt auf der
Independence! Weitab von jeder Zivilisation, jeder Sicherheit!!! Völliger Wahnsinn in Korbens Augen! Aber mal wieder typisch für sein launisches Babylein, das ihn mit seinen verrückten Ideen schon seit
jeher auf die Palme gebracht hat.
Hat ordentlich Zoff gegeben an diesem Sommerabend! So ordentlich, dass sie die Nacht Rücken an Rücken geschlafen haben, statt Löffelchen zu liegen. Und er hat am nächsten Morgen nur deshalb sein Ja und Amen zu dieser Sache gegeben, weil Parrish ihm in einem kurzen Gespräch über das kleine, mobile Com-Terminal zugesagt hat, die
Independence mindestens schon zwei Monate vor Wurftermin wieder in den Erdorbit zu bringen und Raven ihm daraufhin versprochen hat, bei der ersten Wehe sofort Doc Browning zu kontaktieren.
Tja, so läuft der Hase im Hause Dallas. Ist ja wohl klar, wer hier die Hosen an hat!Apropos Hase …
Sein ironisch-amüsierter Gedanke bringt Korben ins Hier und Jetzt zurück und zieht alle seine Sinne in Richtung Küche, aus der ein appetitlicher Duft nach gebratenem Kaninchen dringt.
Korben schnuppert. Dann schmunzelt er. Einige plüschige Schritte später drückt er vorsichtig die Küchentür auf und späht in Richtung Herd.
Da steht sein Baby. Mit hochgestecktem Haar, kariertem Hemd, Bluejeans und dicken Socken an den Füßen. Und was tut es da? Summt vor sich hin und rührt dabei selig in einem Topf herum. Korben weiß gerade nicht, was appetitlicher ist – die schnuckelige Köchin oder das Essen, das ihm um die Nase weht.
Sein Magen knurrt leise. Spricht doch für das Essen, oder?
Korbens Schmunzeln wird breiter, der Türspalt auch.
Geräuschlos schiebt er sich in die Küche hinein, und ebenso geräuschlos schleicht er sich an. Dicht hinter sie, aber nicht so dicht, dass er sie berühren würde.
Sein Blick fällt auf Ravens Nacken. Verführerisch, wie er da so bloß und schutzlos vor ihm liegt. Verführerisch, wie sich ein paar kürzere Strähnen aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst haben und sich nun feucht an ihrer Haut ringeln.
Korben ist nahe dran, leise aufzuseufzen. Aber er lässt es. Ist schließlich geübt im Anschleichen, und bei sowas gibt man keinen Laut. Auch keinen sehnsüchtigen.
Er löst seinen Blick von ihrem Hals – wenn auch schweren Herzens – und sieht ihr stattdessen über die Schulter. Immer noch unbemerkt von ihr. Meint er zumindest. Aber damit liegt er falsch.
„Wenn du glaubst, ich hätte nicht mitbekommen, dass du hinter mir stehst, hast du dich aber geschnitten, mein Lieber!“ Er kann ihr Grinsen nicht sehen, aber hören. „So, wie du reingepoltert bist!“
Mist!„Ich? …
Reingepoltert???“, schnaubt er entrüstet. „Wie könnte ich mit
sowas poltern?“
Sein Finger zeigt demonstrativ auf die Puschen an seinen Füßen. Raven schenkt dem keine Beachtung, aber Korben ist sich sicher, dass sie genau weiß, was er meint.
„Ich hätte wohl besser ‚reingeknurrt’ sagen sollen“, flötet sie weiter, dabei nimmt sie den Löffel aus dem Topf und hebt ihn an ihre Lippen, um zu probieren. „Vielleicht solltest du beim nächsten Mal ein Butterbrot essen, bevor du Anschleichen übst.“
„Vielleicht solltest
du nicht so leckere Sachen kochen, Baby. Dann würde sich das Problem nämlich gar nicht erst stellen.“
Schmunzelnd legt Korben seine Hand um Ravens und zieht ihr den Löffel von den Lippen, um selbst zu probieren.
„Mmmh …! Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Koch bloß weiter so! Das schmeckt sa-gen-haft!“
Rotweinsauce mit einer Crème-Fraîche-Note und einem Hauch von Rosmarin … das ist es, was Korben gerade auf der Zunge zergeht. Prompt knurrt sein Magen lauter.
„Das schreit nach ’nem Nachschlag! Darf man nochmal?“
Hungrig linst er in den Topf, in dem es dunkel und sämig vor sich hinblubbert.
„Man darf die Küche jetzt verlassen!“, lautet die kategorische Antwort, die Korben eigentlich nicht hat hören wollen.
„Ach komm schon! Noch
einmal …!“
Mit einem leisen Lachen taucht Raven den Löffel wieder in die Sauce, bläst danach sanft darüber und lässt ihn noch einmal probieren. Die Sauce landet in Korbens Mund, ein kleiner Kuss daraufhin auf Ravens Lippen, aber als Korben sich danach vor den Ofen hockt und mit einem „Wollen doch jetzt mal sehen, was Meister Lampe so macht“ Anstalten macht, die Ofentür zu öffnen, ist es vorbei mit Frauchens Geduld.
„Abmarsch!“
Der Tonfall ist eindeutig, der Spruch sowieso, und das Bein, das sie energisch zwischen Hasen und hungrigen Wolf schiebt, erst recht.
Jetzt ist es an Korben, leise zu lachen. Verspielt kneift er ihr in den Schenkel, dann richtet er sich wieder auf und sieht ihr verschmitzt in die blauen Augen. Dann auf die süße Nase, auf der sich ein paar kleine Schweißperlen gebildet haben – ist aber auch verdammt warm hier!
„Geht es dir gut, hm? Euch beiden?“, fragt er leise. Dabei legt er eine Hand um ihre Hüfte und zieht sie zärtlich zu sich.
„Ja“, kommt es ebenso leise von ihr zurück, und genauso zärtlich legt sie ihre freie Hand an seine raue Wange und streichelt sie sanft. „Mach dir keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung. Der kleine Wolf will heute noch nicht raus.“
Korbens andere Hand legt sich auf Ravens Kullerbauch – vertraute Geste, weil er das jetzt schon seit fast neun Monaten Tag und Nacht macht. Und tatsächlich … alles still da drinnen!
„Okay“, murmelt er beruhigt. „Aber wenn sich was ändern sollte … wenn du nur das kleinste Anzeichen verspüren solltest … Baby!!“
Sein Blick wird eindringlich und bittend. Ihrer weich und besänftigend.
„Ich verspreche es dir, Korben …“
Korben … seinen Vornamen benutzt sie nur, wenn es ihr wirklich ernst ist. Es beruhigt ihn.
„Okay.“
Dann küsst er sie. Sanft, lange, mit all seiner Liebe. Und murmelt lächelnd, als er sich irgendwann nach Stunden wieder von ihr löst: „Und es wird doch ’ne kleine Katze. Du wirst schon sehen, Mrs. Dallas!“
Damit lässt er ganz ab von ihr und schlurft tief durchatmend aus der Küche hinaus. Sein Magen knurrt schon wieder, aber das ignoriert er jetzt. Höchste Zeit, die Weihnachtsgeschenke zu holen und unter den Baum zu legen!